Good Luck, ein Würfelwurf
Montage mit Jean-Gabriel Périot
“Sagt Dir der Name Jean-Gabriel Périot was?” Die Frage poppte vor einigen Monaten im chat einer Freundin auf, zusammen mit dem Link zum Programm des Festival di letteratura working class in Campi Bisenzio, einem Industrie-Vorort von Florenz. Organisiert wurde dieses Literaturfestival von den Edizioni Alegre in Rom, von Alberto Prunetti, der im Verlag die Reihe Working Class betreut. Zusammen mit dem Collettivo Di Fabbrica, ein Kollektiv von Arbeiterinnen und Arbeitern der ehemaligen GKN Fabrik in Campi Bisenzio, das über eine Dekade Strukturen und Modelle der Mitbestimmung erarbeitet hatte und seit drei Jahren die Fabrik nach deren Verkauf besetzt hält und quasi selbst verwaltet. Die Situation für alle Beteiligten ist prekär, der Ausgang ist ungewiss, die politischen Verhandlungen verfahren, doch diese Verschränkung von Arbeit und Kultur, von kultureller (Selbst)Repräsentation und kollektiver Arbeiter-Unternehmerschaft (co-operative Modelle) scheint elementar, um den Arbeitskämpfen dynamisch Gehör zu verschaffen und zugleich Qualität und Wert der Arbeit als Gegenstand von Kultur zu begreifen. Nicht Kultur als Freizeitvergnügen. In diesem Kontext tauchte der Name Périot neben Didier Eribon auf, in der Rubrik “Literatur von Arbeiterkindern”. Die Frage im chat nach Périot, dessen Name mir nichts sagte, überlagerte sich in dem Moment mit einem zufällig offenen tab von nd-aktuell und einem kritisch-genervten Artikel von Frédéric Valin, “Gegen Eribon—Vom Wir zum Ich: Die Arbeiter*innenkinderliteratur ersetzt die Arbeiter*innenliteratur.” Buch und Film: Retours à Reims (Rückkehr nach Reims). Der Film antwortet dem Autoren Ich mit dem Wir der Filmgeschichte, montiert wie eine Art kollektivgeschichtliche Beweisführung. Die Geschichte jener zu erzählen, die ihrer Klasse entkommen sind, die den Aufstieg geschafft haben, das interessiere ihn nicht, sagt Périot. Vielmehr, wie lässt sich die Geschichte der Arbeiterklasse erzählen.
In zwei Bewegungen hat Périot in Rückkehr nach Reims (Fragment) diese Geschichte geteilt: chronologische Entfaltung von Präsenz und deren Verschwinden. Die Präsenz der Arbeiterinnen, Arbeiter, ihrer Arbeit, ihrer Wohn- und Lebensverhältnisse, im Bild, zeigt sich durch die Qualität des Filmmaterials, in einer Montage von Filmausschnitten von den 1920ern bis zu den 1970ern, deren Quelle erst im Abspann sichtbar wird. Sie stellt sich her durch das Interesse und die Arbeit der Journalist*innen und Filmemacher*innen, aber auch der Produzent*innen, Cutter*innen, Redakteur*innen der Fernsehanstalten. Präsenz auch als Würde, reflektierende Stimme, Haltung, als Zurückschauen, struggle und körperliche Reibungsfläche gegenüber des voice-over Text, gesprochen von Adèle Haenel, deren Stimme eine weitere, gegenwärtig politische Präsenz mitbringt. Dieser Text ist ein Fragment von Eribon’s Buch, etwa ein Zehntel davon, sagt Périot, die Stimme der Mutter herausdestilliert. Die Version der Frauen, der Arbeiterinnen habe ihn vor allem interessiert, darin ein Echo seiner eigenen Kindheit gefunden, aufgewachsen in einem Arbeiterinnenhaushalt, mit der Mutter und mehreren Tanten. Die Arbeit an dem Film begann mit der Idee der Produzentin Marie-Ange Luciani, die Périots’ Arbeitsweise mit Archivmaterial kannte und ihn fragte, ob er nicht Interesse an dem Buch hätte. Schichtungen und Verdichtung von der Anwesenheit vieler.
Die zweite Bewegung des Films, die vom Verschwinden, verschränkt Filmtechnikgeschichte und Politik. Die Einführung von Video und der damit einhergehende Verlust der Bildauflösung generiert ein poor image, flach, das es nicht vermag, diese körperliche Präsenz herzustellen. Zugleich sollte Video ja die Zuschauer*innen potentiell zu Produzent*innen machen, wobei diese demokratische Idee sich in Retour á Reims in keiner Weise abbildet. Was sich zeigt, ist dass das Interesse an der dokumentarischen Qualität im Fernsehen verloren geht. Es ist der Verlust an Details, an Unterscheidungen, am Weitwinkel, was funktioniert ist Kontrast und Großaufnahme. Die Umstellung von Film auf Video bei den Fernsehsendern, bringt auch andere Programmschwerpunkte. In Retour à Reims zeigt sich das als Talkshow und Wahlkampf und die Arbeiterinnen und Arbeiter werden vielmehr in ihrer Funktion als Wähler und Wählerinnen gezeigt, als Publikum vor dem Wahlkampf inszeniert wird. Verschiebungen auf mehreren Ebenen. Mit dem Verlust der Bildqualität scheint sich auch das Interesse am Zuhören zu verändern, der Kontrast, übertragen auf die Rede, äußert sich als Rhetorik, und die wird immer schärfer. Einhergehend mit der ökonomischen Krise Anfang der 1980er Jahre. Diese zweite Bewegung beschreibt auch ein politisches Abdriften hin zur Front National, mit Le Pen als Hauptakteur, der das Phantasma der Identität eines französischen Volkes beschwört und sich einer enttäuschten Arbeiterklasse als Protest anbietet. Der Slogan “same boss, same struggle”, als Fundament eines solidarischen, transversalen Verständnisses von Klassenzugehörigkeit, jenseits der Herkunft der Arbeitenden, wird dabei systematisch demontiert. Mit dem Abdriften nach rechts verschwindet Klasse auch zunehmend als nicht- identitärer, nicht-religiöser Bezugsrahmen. Und aus einer Debatte über Arbeit und Arbeitsverhältnisse im Kapitalismus, über deren Sinn und Qualität, über Bildung und Ausbildung, wird Migration gegen Arbeitslosigkeit ausgespielt.
Ein Epilog in 4K springt von den grissligen Videobildern aus den 1980ern in die digitale Gegenwart und endet mit der Agitprop Montage einer breit gefächerten, wütenden Riot- Choreographie und führt auf Bildebene weiter, wofür die voice-over Stimme von Adèle Haenel auch steht, einer revolution permanente. Vor allem in Frankreich ist ihre Stimme als explizit feministische und anti-kapitalistische Haltung bekannt; vor zwei Jahren hat sie sich komplett von der Filmindustrie zurück gezogen, tritt vor allem im Theater auf, macht mit Rokhaya Diallo anti-rassistische Politik, und unterstützte öffentlich die Präsidentschaftskandidatur von Anasse Kazib in 2021 (“Thank you for making us collectively smarter.”). Kazib war über Jahre in der Eisenbahner-Gewerktschaft aktiv, bis er für seine Partei, die kontinuierliche Umwälzung der Verhältnisse einfordernd, Wahlkampf machte. There is joy in this struggle (2017).
Image, Imaginer. In der ersten Minute von Une Jeunesse Allemande (2015) hören wir Godard sprechen, undeutlich, von Hintergrund Geräuschen überlagert, ein Lachen, der Gong einer Bahnhofsdurchsage. Eine weitere Stimme übersetzt die Wortfetzen zu einer Frage: “Ist es möglich, in Deutschland Filme zu machen?” Hellmut Costard twisted image, imaginer, en Allemagne zu einer filmpolitischen Frage. Godard spinnt die Frage assoziativ weiter, grundsätzlicher. Er legt nahe, dass sich das Vorstellungsvermögen (imaginer) vom Bild (image), vom Bildermachen (faire des images) nicht trennen lässt. Als wäre die Qualität der Möglichkeit abhängig von der Qualität der Bilder. Was lässt sich überhaupt vorstellen (imaginer) ohne Bilder (images)? Da schwingen alle Zeitebenen und womöglich Bilder mit. Das Vergangene und noch nicht Dagewesene. Das Archiv und Filmen für das zukünftige Archiv. Wir sehen dabei einen Super-8 Filmstreifen am Schneidetisch, und Fotos von Super-8 Kameras, auch auf Stativ. Filmen, Bewegtbilder produzieren, erschwinglich gemacht, demokratisiert, semi-professionell. Eine Ökonomie des Vorstellungsvermögens? Die Minute kommt aus dem Jahr 1978. Das Jahr, in dem Costard’s Film Der kleine Godard erscheint. Im selben Jahr reist Godard mit derselben Frage nach Mosambik, auf Einladung der gerade erst unabhängig gewordenen nationalen TV- Station. “Ist es möglich….?” Handlungsreisender einer Möglichkeitserforschung: image/ imaginer. Godard’s Insistieren, erst und vor allem den Produktionsapparat zu verstehen, führte in Mosambik zu keinem Film. Stattdessen, ein Dossier in den Cahiers du Cinema: “Nord contre Sud ou Naissance (de l’image) d’une Nation” (Norden gegen Süden oder die Geburt (des Bildes) einer Nation). Nicht ein Artikel oder Analyse, sondern Tagebuch-Fragmente und Überlegungen was zu tun sei, ein Vorschlag, ein Projekt, dazwischen eine Seite mit einer Art Wort-Bild. Dasselbe Wort, wiederholt, untereinander geschrieben: APPRENDRE. Lernen. Im Französischen steckt darin das “nehmen”, prendre. Wissen aufnehmen. Ein Bild nehmen, aufnehmen, und dabei lernen. Lernen als unmittelbar verbunden mit der Komplexität, was es bedeutet, ein Bild zu machen. Einen Film nicht zu machen ist dennoch ein Filmprojekt.
Périot’s Interesse an Bildern, an Archivmaterial, an Geschichte hat mit der Ermittlung dieses Möglichkeitsfeld zu tun. Durch Bilder hindurch zu einer vergangen-gegenwärtigen Wirklichkeit zu gelangen, einer Wirklichkeit, die sich von ihrer Vermittlung und dem Medium durch das sie fabriziert wird, nicht trennen lässt. Aber nicht, um in dieser Schlaufe zynisch oder allzu wortgewandt hängen zu bleiben, eher um die Interaktion zwischen Ton-Bild-Wirklichkeit als Handlungsraum zu nutzen. Bei all seinen Filmen steht das Bild, Bewegtbild als generativer Ausgangspunkt. Die Auswahl und Montage von Archivbildern legt Möglichkeiten nahe, aus den Bildern etwas herauszulesen, was zum Zeitpunkt der Aufnahme sich hätte anders weiter entwickeln können. In den Bildern (vorgebrachten Argumenten) der Vergangenheit das Potenzial für eine andere Zukunft zu sehen, Geschichte als Narrativ, als ein nicht-nostalgisches, unabgeschlossenes Projekt. An etwas anzuknüpfen. Auch das hat mit Präsenz zu tun, und was sich davon ausgehend entfalten kann. Material und damit Momente freizulegen und nicht mit Erklärung zuzuschütten, sondern neu zu befragen. Etwa in Jeunesse Allemande. Ulrike Meinhof, ihren Argumenten und ihrer Redegewandtheit Raum zu geben, etwa in verschiedenen Talkshow-Runden. Ausschnitte, die Périot einem Porträt-Film von Timon Koulmassis entnommen hat, wie sich im Abspann nachvollziehen lässt, aus dem Jahr 1994, aber eben ohne jede psychologisierenden Statements von Klaus Rainer Röhl oder anderen. Périot’s Montage spannt Bögen, entwickelt sich suchend.
Nochmal anders formuliert: Fernsehen mit Bildungsauftrag. In einer weiteren Talkshow-Runde, diesmal mit Alexander Kluge, fragt der Moderator danach, die Arbeit und Intention eines Regisseurs beschreibend, mit bewegten Bildern eine Gesellschaft zu bewegen, “vielleicht zu berühren, und schließlich gar zu verändern” — und nach einer Kunstpause, die Stimme am Ende der Frage, freundlich, offen nach oben gezogen: ist das möglich? Périot wartet nicht die Antwort von Kluge ab, sondern interessiert sich für die Laufbahn von Holger Meins, und schneidet auf Willy Brandt, noch regierender Bürgermeister von Berlin, der die Willkommensrede an die erste Klasse richtet, die an der dffb aufgenommen wurde, 1966.
Warum aber die besten Filmemacher dieser Klasse, das Filmen aufgegeben und stattdessen sich für Terrorismus entscheiden werden? Die insistierende Unaufgeregtheit mit der Périot nach Antworten im Material selbst sucht macht es möglich, etwas zu sehen, oder vielmehr zu hören, was hätte auch möglich sein können … was wäre wenn, Ulrike Meinhof Chefredakteurin vom Spiegel geworden wäre, oder von der ARD, Holger Meins jedes Jahr hätte einen Film finanzieren können…
Bilder zu befragen, sie zu formulieren, eine Sprache für das Gesehene zu entwickeln — als Methode, um das Verhältnis zur Wirklichkeit, zur jeweiligen Lebensrealität immer wieder neu zu bestimmen. Diesen Zwischenraum stellt Périot als Filmemacher immer wieder anders als Konstellation her. In Our Defeats (2019) zusammen mit Schülerinnen und Schülern aus der Oberstufe in einem Vorort von Paris, in Facing Darkness (2023) zusammen mit Filmemachern aus Sarajevo, die während der Belagerung von Sarajevo von 1992-96 es geschafft haben, weiter Filme zu machen, als Überlebensstrategie, als Dokument. In beiden Filmen spielt das Übersetzen eine große Rolle, unter komplett anderen Vorzeichen, eine Sprache zu finden, ausgehend von Filmmaterial. Mit den Schülern stellt Périot Szenen aus politischen Filmen aus den 1960er und 1970er Jahren nach. Sie sprechen Texte, machen Ton und Kamera, suchen nach den entsprechenden Winkeln der Aufnahme und Einstellungen und reflektieren schließlich was sie da eigentlich gemacht haben. Sie übersetzen marxistisch-maoistische Sprache and Analyse in ihr jeweiliges Verständnis von der Gegenwart. Godard’s APPRENDRE setzt sich hier um, im Wiederholen und Sprechen einer Sprache, die nicht die der Schülerinnen und Schüler ist, also das Nachspielen von Radikalität, und im selben Maße wie die Schülerinnen und Schüler anscheinend keine Ahnung haben, was sie da für einen Text aufsagen, oder sich distanzieren, haben sie es doch längst schon verstanden, aufgenommen. Nur eben anders.
“When the camera started rolling, we said: good luck”. Die Filmemacher in Sarajevo haben gefilmt, ohne zu wissen wie ihnen geschieht, ob sie am nächsten Tag noch leben, ob jene zurückkommen, die sie aufnehmen. Im Nichtwissen filmen, womöglich in der Hoffnung, dass in einer ungewissen Zukunft das Material als Dokument hilfreich oder notwendig sein könnte. “You can’t survive without culture.” Périot hat es dreissig Jahre später gesichtet und zum Anlass genommen, die Filmemacher zu besuchen, Nedim Alikadić, Smail Kapetanović, Dino Mustafić, Nebojša Šerić Shoba, Srdan Vuletić und, ausgehend und entlang ihrer Filme von der Zeit der Besatzung, des Krieges, ihrer Erfahrung zu sprechen. Die Konstellation wird gezeigt durch wiederholte Achsensprünge, in denen die Crew aus der Distanz gezeigt wird, eine kleine Gruppe, die das Interesse mitbringt, zuhört, fragen stellt, aufnimmt.
Annett Busch
Kolik Film
Oktober 2024